Long Tail
Mit Long Tail wird eine Theorie bezeichnet, die auf Arbeiten von Maxwell Gladwell zurückzuführen ist. Die Theorie besagt, dass ein Anbieter im Internet mehr an dem Verkauf vieler, wenig nachgefragter Produkte verdient, als an dem Absatz weniger Main-Stream-Produkte mit großer Nachfrage.
Entstehungsgeschichte
Nachdem Maxwell Gladwell in seinem Buch „The Tipping Point: How Little Things Can Make a Big Difference” [1] 2000 die Grundlage für die Idee legte, formulierte sie der US-amerikanische Journalist und Chefredakteur des Wired-Magazine Chris Anderson im Oktober 2004 in seinem Artikel „The Long Tail“ aus [2]. 2006 erschien sein gleichnamiges Buch, in dem er noch näher auf das Phänomen einging, in den USA [3], 2007 die deutsche Übersetzung „The Long Tail - Der lange Schwanz: Nischenprodukte statt Massenmarkt - Das Geschäft der Zukunft“ [4].
Die Theorie [5]
Die von Chris Anderson aufgestellte und von ihm ausführlich mit Statistiken belegte Theorie ist folgende: Ein Anbieter im Internet kann zusammengenommen mehr Gewinn durch den Verkauf selten nachgefragter Artikel machen als durch den Verkauf von Bestsellern.
Anderson untermauert seine Theorie unter anderem mit dem Beispiel von Rhapsody, einem Online-Musikdienst von Real Network, das zur Zeit seiner Untersuchung 735.000 Titel anbot. Er ermittelte die Nachfragekurve für die von Rhapsody innerhalb eines Monats verkauften Tracks und stellte folgendes fest: Die ersten 40.000 Tracks waren jene, die sich besonders gut verkauften (die „Hits“) und die auch vom durchschnittlichen Musikladen in der physischen Welt angeboten wurden. Nach diesen 40.000 Titeln endete die Nachfragekurve bei einem realen Laden, denn mehr Angebot war nicht vorhanden. Bei Rhapsody hingegen verkaufte sich jeder Track in den Top 100.000 mindestens einmal im Monat, jeder Track in den Top 200.000 mindestens einmal im Monat, jeder Track in den Top 300.000 mindestens einmal im Monat und jeder Track in den Top 400.000 ebenso. Diese Spanne ist der Long Tail und der Long Tail bringt dem Unternehmen mehr Gewinn ein als die Spanne der „Hits“.
Limitationen durch die Physische Welt [6]
Das Phänomen des Long Tail ist auf das Internet beschränkt, da Unternehmen in der physikalischen Welt eine Mindestquote an lokalen Abnehmern finden muss, um ein Produkt mit Gewinn verkaufen zu können. Andernfalls rentiert sich der Lagerplatz für das Produkt nicht. Anderson nennt dies “the tyranny of lowest-common-dominator fare“ (zu Deutsch etwa: „Die Tyrannei der Kosten für den kleinsten gemeinsamen Nenner“).
Die meisten Anbieter im Internet adressieren allerdings einen viel größeren Markt, meist aus zentralen Lagern, weshalb sie auch eine größere Varianz an Produkten anbieten können. Gerade für Anbieter von Musik oder anderen digitalen Formaten, die keinen physikalischen Lagerplatz, sondern virtuellen Lagerplatz (Festplattenspeicher) belegen, und keine Produktions- und Logistikkosten für die Erstellung und Versendung von Datenträgern haben, rentiert sich diese Ansicht. Als eine weitere Beschränkung für die Verbreitung von Produkten sieht Anderson die Physik an sich. Er bemerkt, dass nur eine begrenzte Zahl Radio- oder TV-Sender ausgestrahlt werden können und auf diesen nur 24 Stunden Material am Tag verarbeitet werden kann.
Sozio- psychologische Konsequenzen [7]
Chris Anderson sieht in den Angebotsmöglichkeiten des Long Tail auch einen sozio-psychologischen Aspekt: Seiner Ansicht nach treten die Menschen von einer Welt der Kargheit in eine Welt des Überflusses ein. Jeder kann nun das kaufen, was ihn interessiert ohne von den Vorlieben der Allgemeinheit in seiner Auswahl beschränkt zu werden. Die Ökonomie des Long Tail führt zu einer steigenden Individualität und veranlasst Menschen, ihre alten Denkweisen von „Hits“ zu überdenken. Vor dem Internet gingen die meisten Menschen davon aus, dass alles, was kein „Hit“ ist, sich nicht lohnt. Ein Unternehmer ging davon aus, dass er aufgrund fehlender Nachfrage keinen Gewinn damit machen könne. Der Kunde dachte sich, da es nicht allgemein anerkannt sei, könne es nicht besonders gut sein. Denn wenn es gut wäre, würden die Leute es haben wollen und es wäre in seiner Distribution weit verbreitet, dann wäre es ein „Hit“.
Nun kann jeder das bekommen, was ihn interessiert und neue Produkte entdecken, die er mag, die er im Laden um die Ecke niemals hätte kaufen können. Der Mensch verfeinert mit dieser Auswahl seine Individualität und hebt sich von der Masse ab. Er bewertet Produkte nicht mehr nach dem Empfinden der Allgemeinheit und der Wirtschaft, welche die Allgemeinheit durch seine selektive Belieferung auch prägt, sondern nach seinem eigenen, persönlichen Empfinden. Die Suche nach interessanten Produkten kann im Kunden ein Gefühl der Entdeckung auslösen und insgesamt zu mehr Abnahme führen, was die Wirtschaft stärkt.
Chris Andersons Regeln für lukrative Long-Tail-Wirtschaft [8]
Chris Anderson identifiziert drei Regeln für den erfolgreichen Aufbau eines lukrativen Long Tail:
Regal Nr. 1: Mach alles erreichbar!
Anderson ist der Meinung, dass es für alle Industrien lohnenswert ist, alles anzubieten, was sie verkaufen können, solange auch nur die entfernteste Chance besteht, dass es jemand kaufen könnte. Das beste Beispiel für diese Regel ist sicher Ebay, wo man Produkte in jedem Zustand und von jeder Art finden kann.
Regel Nr. 2: Reduziere den Preis um die Hälfte. Jetzt setze ihn tiefer.
Anderson spricht sich dafür aus, die Preise für Online-Medien an die wirklichen Herstellungskosten zu binden, statt die sonst übliche Orientierung an den Preisen von realen Objekten zu verfolgen. Damit verurteilt er die Praxis der Musikindustrie, Tracks als Audiodownload so viel kosten zu lassen, wie der preisliche Anteil des Tracks an einer im Laden gekauften CD wäre. Dies wurde vor allem deshalb praktiziert, um den physikalischen Tonträger nicht in seiner Konkurrenzfähigkeit zu untergraben. Anderson hingegen will sowohl der wirtschaftlichen Realität der geringeren Herstellungskosten zollen, als auch beim Kunden einen psychologischen Effekt hervorrufen. Er glaubt, dass durch seine Regel illegale Downloads drastisch reduziert würden, weil in der Meinung der Kunden ein geringer Preis dem Risiko und dem erhöhten Aufwand vorzuziehen wäre, welche die Kostenlosigkeit des illegalen Downloads beinhaltet.
Tatsächlich bieten die meisten Online-Shops heute CDs als physische Datenträger und als Audiodownload an, wobei der Preis des Downloads regelmäßig unter dem des Datenträgers liegt. Die Industrie akzeptiert damit, dass der Download weniger Kosten verursacht und gibt die Ersparnis an seine Kunden weiter, allerdings nicht in dem von Anderson gewünschten, radikalen Preissturz.
Regel Nr. 3: Hilf mir, es zu finden!
Anderson versteht, dass es praktisch unmöglich ist, ein Geschäft nur mit Long Tail-Produkten zu führen. Ein Unternehmen muss die Kunden zunächst mit „Hits“ zu sich bringen, und kann sie dann auf weniger bekannte Dinge hinweisen.
Ein typisches Beispiel für diese Regel ist die von Amazon und anderen Shops genutzte Funktion „Kunden, die dieses Produkt gekauft haben, kauften auch…“, mit denen sie ähnliche Artikel in den Blick des Kunden bringen. Als Hintergrund für Funktionen dieser Art werden Bewertungen, Such-und Kaufverhalten vieler Kunden herangezogen, um gezielt individuelle Werbung herstellen zu können.
Umsetzung auf die Social-Media-Kommunikation [9]
In ihrem Buch „Follow me!“ von 2011 übertragen Anne Grabs und Karim-Patrick Bannour die Theorie des Long Tail auf Social-Media-Kommunikation, indem sie vorschlagen, einen „Long Tail mit authentischen Meldungen über das Unternehmen und seine Dienstleistungen zu erzeugen“.
Als vorderen Teil des Graphen sind somit die Werbeslogans des Unternehmens interpretiert, während der Long Tail aus Beiträgen in Social Media Kanälen wie Blogs, Facebook oder Twitter besteht. Sie sind als an die Interessen der Kunden angepasste Äußerungen zu verstehen, die dem Unternehmen zum einem besseren Verständnis dieser Interessen verhelfen.
Wenn nun nach dem Produkt oder dem Unternehmen gesucht wird (z.B. auf Google), so werden all diese Beiträge berücksichtigt und je mehr Beiträge geschrieben werden, „desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Inhalte unter diesen Stichwörtern auffindbar sind“. Die Wahrscheinlichkeit, gefunden zu werden, steht also analog zu dem Gewinn des Long Tails.
Weblinks
http://www.gladwell.com/tippingpoint/
http://www.wired.com/wired/archive/12.10/tail_pr.html
Quellennachweise
[1] http://www.gladwell.com/tippingpoint/ (abgerufen am 07.03.2012); http://contemporarylit.about.com/od/socialsciences/fr/theTippingPoint.htm (abgerufen am 07.03.2012)
[2] http://www.wired.com/wired/archive/12.10/tail_pr.html (abgerufen am 07.03.2012)
[3] http://www.amazon.com/Long-Tail-Future-Business-Selling/dp/1401302378/ref=sr_1_1?s=books&ie=UTF8&qid=1331128698&sr=1-1 (abgerufen am 07.03.2012)
[4] http://www.amazon.de/Long-Tail-Nischenprodukte-Massenmarkt-Geschäft/dp/3446409904/ref=sr_1_1?ie=UTF8&qid=1331128753&sr=8-1 (abgerufen am 07.03.2012)
[5] http://www.wired.com/wired/archive/12.10/tail_pr.html (abgerufen am 07.03.2012)
[6] http://www.wired.com/wired/archive/12.10/tail_pr.html (abgerufen am 07.03.2012)
[7] http://www.wired.com/wired/archive/12.10/tail_pr.html (abgerufen am 07.03.2012)
[8] http://www.wired.com/wired/archive/12.10/tail_pr.html (abgerufen am 07.03.2012)
[9] Anne Grabs & Karim-Patrick Bannour: Follow me! - Erfolgreiches Social Media Marketing mit Facebook, Twitter und Co., 1. Auflage 2011, S. 37